12. Zentralschweizer Wirtschaftsforum: Closing Key Note

Wie ein geeintes Europa mit Kooperation und Netzwerken seine Weltpolitikfähigkeit erhalten kann.

Mit europäischen Gartenzwergen die Riesen der Weltpolitik bändigen

Zum Abschluss des 12. Zentralschweizer Wirtschaftsforums erwartet die Teilnehmenden ein flammender Appell des ehemaligen EU-Kommissars, Günther H. Oettinger, für ein starkes Netzwerk Schweiz-Europa.

 

Der ehemalige Vizepräsident der EU-Kommission, Günther H. Oettinger, hält auf dem Pilatus mit seinen mahnenden Worten nicht hinter dem Berg. Gerade in der aktuell konfliktreichen Lage in Europa und der Welt sieht der Baden-Württemberger die Schweiz in der Pflicht, die eigene Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. «Das bedeutet, aktiv zu werden und zu handeln. Denn Wohlstand entsteht nicht durch Stillstand.»

 

Verschwindet Europa bald von der Weltbühne?
Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Gemessen an der Bevölkerungszahl ist die chinesische Metropole Shanghai bereits heute grösser als die Schweiz, Österreich und Baden-Württemberg zusammen. Im Jahr 2050 wird die Bevölkerung Europas gerade noch 5 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Wie will sich Europa dereinst noch Gehör auf der Weltbühne verschaffen und die eigene Weltpolitikfähigkeit aufrechterhalten?

 

«Wir sind zu satt, zu träge, zu selbstzufrieden», bilanziert Günther H. Oettinger. Ein weiteres Beispiel zeigt, wie Europa droht im bipolaren Kräftemessen zwischen zwischen Stuhl und Bank zu fallen: RCEP. Hinter den vier Buchstaben versteckt sich nichts Geringeres als die grösste Freihandelszone der Welt. Erst vor zwei Jahren wurde das Freihandelsabkommen zwischen fünfzehn Staaten in der Region Asien-Pazifik abgeschlossen und damit ein mächtiges asiatisches Gegengewicht zur amerikanisch dominierten Transpazifischen Partnerschaft (TPP) geschaffen. 

 

Sackmesser und Schokolade für den Weltmarkt
«Der Erfolg der Schweiz», so Oettinger, «hat viel mit dem europäischen Binnenmarkt zu tun». Er nimmt das Beispiel Victorinox. Jahr für Jahr produziert der Schwyzer Sackmesserhersteller Zehntausende Messer – nicht für den kleinen Schweizer Markt, sondern für den Export. Viele Schweizer Unternehmen produzieren für den Weltmarkt und damit auch für den europäischen Binnenmarkt mit seinen über 440 Millionen Konsumentinnen und Konsumenten. «Der EU-Binnenmarkt eröffnet der Schweiz das Tor zur Welt. Auch die Zentralschweiz tut gut daran, über den Tellerrand hinaus zu schauen, und die Augen für die Schweiz, Europa und die Welt zu öffnen.»

 

Neues Feuer für die erkaltete Ehe
Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU vergleicht Günther H. Oettinger mit der Beziehung eines alten Ehepaars: «Er hält die Zeitung vors Gesicht, sie bringt ihm morgens keine Marmelade mehr.» Schuld an dieser erkalteten Beziehung sind gemäss Oettinger beide Seiten. Statt die Faust im Sack zu machen, soll sich die Schweiz nun gezielt mit Personen vernetzen, die offen sind für einen Austausch. Zum Beispiel mit EU-Kommissar Maroš Šefcovic. Die Schweiz solle das Gespräch mit den direkten Nachbarstaaten suchen, rät er. «Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien haben ebenfalls ein Interesse an einer konstruktiven Lösung mit der Schweiz.»

 

Die komplexen Herausforderungen unserer Zeit verlangen geradezu nach kooperativen Lösung. Dabei kann der virtuelle Raum persönliche Begegnungen nicht ersetzen. Vertrauen entsteht laut Oettinger durch persönliche Kontakte. Er legt den Zuhörenden ans Herz: «Reisen Sie einmal im Jahr nach Brüssel. Es lohnt sich. Denn die Standards Ihrer Produkte und Dienstleistungen werden nicht in Bern oder Berlin festgelegt, sondern in Brüssel.»

 

Von Gartenzwergen, die Riesen bändigen
«In Europa gibt es zwei Typen von Ländern: Länder, die klein sind und Länder, die wissen, dass sie klein sind», erläutert der ehemalige EU-Kommissar. Die kleinen Länder vergleicht Oettinger mit Gartenzwergen. «Gartenzwerge stellt man sich normalerweise in den Vorgarten. Dort werden sie von Hunden angepinkelt.» Um die weltpolitischen Riesen zu bändigen, braucht es ein Team von Zwergen. Gerade bei grenzübergreifenden Themen wie Datenschutz, Klimawandel, Forschung oder Infrastruktur braucht es grenzübergreifende, pan-europäische Lösungen. Wenn jeder für sich schaut, werden die Nationalstaaten von der Marktmacht der globalen Konzerne schlicht überrollt. Nach dem Leitspruch von Günther H. Oettinger «Attempto!», zu Deutsch: Ich wage es!, braucht es nun den Mut, neue Wege einzuschlagen. Mit diesen Worten, einer Standing Ovation und Günther H. Oettingers Lieblingslied «Die Gedanken sind frei» setzt die Closing Key Note einen fulminanten Schlusspunkt unter das 12. Zentralschweizer Wirtschaftsforum.

Günther H. Oettinger

 

Key Take-Away

  • Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU hat sich im Zuge der Verhandlungen über das Rahmenabkommen spürbar abgekühlt. Schuld daran sind beide Seiten.
  • Um auch zukünftig weltpolitikfähig zu bleiben, braucht es starke Netzwerke und eine gute Kooperation zwischen den europäischen Staaten.
  • Wohlstand entsteht nicht durch Stillstand, sondern durch Fortschritt.
  • Die Schweiz verdankt einen Grossteil ihres Wohlstands und Erfolgs dem europäischen Binnenmarkt. Diesem wichtigen und mächtigen Markt gilt es Sorge zu tragen.