Zentralinfo 01/2023 «bewegen»: Artikel Luzi Bernet

Zentralinfo 01/2023 «bewegen»: Artikel Luzi Bernet

«NZZ» Italien Korrespondent Luzi Bernet schreibt über den beunruhigenden Verhandlungsstillstand zwischen der Schweiz und der EU.

Das Ringen um das Verhältnis zur Europäischen Union gehört zur Geschichte der modernen Schweiz. Dass jetzt nach dem Scheitern des Rahmenabkommen – fast – Stillstand herrscht, ist beunruhigend. Es passt aber zur allgemeinen Reformblockade.

Was haben wir um Europa gekämpft! Die Schweizer Geschichte der letzten dreissig Jahre ist wesentlich geprägt durch die dauernde Auseinandersetzung um unser Verhältnis zur EU: Erst das das Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), dann das Ringen um die Bilateralen I und II – und schliesslich der Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen mit Brüssel. 


Die Europadebatte verlief mitunter chaotisch und laut. Sie hat die Schweizer Politik markant verändert. Der steile Aufstieg der SVP und der parallel dazu verlaufende Krebsgang der grossen staatstragenden bürgerlichen Parteien FDP und CVP wäre ohne das Europathema nicht denkbar gewesen. Über kaum ein anderes Dossier ist seit 1992 diesseits und jenseits der Saane so heftig diskutiert worden. Und obschon nach der EWR-Abstimmung der sogenannte Rösti- und später der Polentagraben viel zu reden gab, hat der Streit um Europa die Landesteile letztlich zusammengeführt. Ob in Lugano, Lausanne oder Schaffhausen – über die EU und die Frage, wie die Schweiz ihr Verhältnis zu ihr gestalten soll, wurde überall mit grossem Engagement diskutiert. Nicht wenige Aushängeschilder der Schweizer Politik wurden durch die Europafrage politisiert. 


Diese mitunter ungestüme Vitalität steht in auffälligem Kontrast zu dem, was nach dem 26. Mai 2021 geschah, jenem Tag, an dem der Bundesrat bei den Verhandlungen um das Rahmenabkommen den Stecker gezogen hatte. Seither bewegt sich zwischen Brüssel und Bern nichts mehr. Es herrscht Stillstand. 


Wohl gibt es im Land besorgte Stimmen, die sich für einen Neuanlauf stark machen, aber die Europadiskussion lebt derzeit nur noch weiter als gleichsam ritualisierte Erinnerung an die Schlachten der Neunziger- und Nuller-Jahre. 


Natürlich hat es in all den Jahren immer wieder auch ruhigere Phasen gegeben, Zeiten, in denen andere Themen die Schlagzeilen beherrschten. Ja, eine Weile machte es sogar den Anschein, als habe die Schweiz ihren inneren Frieden mit der Europapolitik geschlossen. Es waren die glücklichen Jahre der Bilateralen, als man meinte, die angemessene Handhabe endlich gefunden zu haben. Die Emotionen kühlten sich ab, aber ebenso der Wille, eine gestalterische Europapolitik zu betreiben. Auch auf anderen Gebieten – etwa der Sozialpolitik – machte sich Reformmüdigkeit bemerkbar. Ja, es machte (und macht) den Anschein, als habe die sich abzeichnende Unlust in der Europapolitik etwas mit dem Unvermögen zu tun, auf anderen wichtigen Gebieten Reformen zu realisieren. Die zeitliche Koinzidenz ist jedenfalls auffallend.


Das ist fatal. Jeder Unternehmer weiss, dass erfolgreich nur sein kann, wer wach bleibt, Entwicklungen antizipiert – und Realitäten akzeptiert. Dazu – zu den Realitäten – gehört auch die Einsicht, dass die EU, ob wir wollen oder nicht, nach wie vor der entscheidende Faktor (und Markt) auf unserem Kontinent ist. So verlockend mitunter andere Perspektiven (und andere Märkte) sein mögen: Am Ende müssen wir doch zuerst und vor allem ein Einvernehmen mit der EU finden, unseren nächsten Nachbarn. Dazu müssen wir uns endlich wieder bewegen. Es gehört zur Geschichte der modernen, erfolgreichen Schweiz.   

 

Kategorien

Ähnliche News