Zentralinfo 01/2024 «Kultur»: Chnebelgrinde und Tüpflischeysser – über Innerschweizer Dialekte

Zentralinfo 01/2024 «Kultur»: Chnebelgrinde und Tüpflischeysser – über Innerschweizer Dialekte

In der Innerschweiz findet man Dialekte mit Besonderheiten, die es in den mittelländischen Dialekten so nicht gibt. Zur Attraktivität dieses Kulturguts trägt u. A. ein Skirennfahrer mit seinem «besonderen» Nidwaldnerdeutsch bei.

Eigenbrötlerische Quernaturen – «Chnebelgrinde» – und neuerdings auch Perfektionisten – «Tüpflischeysser» – sollen sie sein, die Innerschweizer/innen. Und auch ihren Dialekten sagt man nach, sie hätten etwas Eigenes und Besonderes. Dieser Eindruck des Besonderen verdankt sich dem Umstand, dass die schweizerdeutschen Dialekte viel Gemeinsamkeiten haben und die Unterschiede gerade deshalb auffallen, insbesondere, wenn sie nur bei wenigen Sprecherinnen und Sprechern aus eher bevölkerungsarmen Gegenden vorkommen. Und tatsächlich gibt es vor allem in den «Länder»-Kantonen Uri, Schwyz und Unterwalden einige sprachliche Besonderheiten, bei denen es sich nicht etwa um ‘alte’ Formen handelt, sondern um Eigenheiten, die sich dort in den letzten Jahrhunderten herausgebildet, jedoch nicht weiterverbreitet haben. Dazu gehört beispielsweise die Lautung in Wörtern wie «Maus», «Haus» aber auch «Kultur», die in den meisten Deutschschweizer Dialekten «Muus», «Huus», «Kultur» usw. ausgesprochen werden. In Nid- und Obwalden dagegen hört man «Muis, «Huis», «Kultuir», in Uri «Müüs», «Hüüs», «Kultüür». Den Plural «Mäuse» lautieren die Urner und Obwaldner als «Miis», viele Nidwaldner dagegen sagen «Meys». Gar nur in Engelberg, der Obwaldner Exklave in Nidwalden, findet man «Möis» (Singular) und «Muis» (Plural). Auch andere Eigenheiten haben kleine Geltungsareale: Um Einsiedeln ist es die Aussprache von «Schnee» als «Schnei», «schön» als «schöin», «Rose» als «Rouse» usw.; «Schuh» lautet um Lungern «Schio», «Mutter» lautet dort «Mioter» usw. Wer sich in der Schweizer Dialektlandschaft etwas auskennt, mag nun einwenden, dass «Maus» im Lötschental ja auch «Muis» laute. Dem ist tatsächlich so, allerdings wird «Muis» (Singular) dort nicht mit «Meys» (Plural) kombiniert. Es ist also oftmals das jeweilige Zusammenspiel von sprachlichen Merkmalen, das einen Dialekt ausmacht, der nebst Brauchtum oder geistigen, künstlerischen, gestalterischen Ausdrucksweisen zum Kulturgut einer Ortschaft oder einer Region gehört. Unüberhörbar sind jedoch die Unkenrufe, wonach die Sprecherinnen und Sprecher ihre dialektalen Besonderheiten ablegen und sich zunehmend aneinander anpassen würden. Jüngere Untersuchungen zeigen, dass diese Sichtweise weder ganz richtig noch ganz falsch ist. Man findet nämlich bei vielen Ansässigen die als typisch geltenden Eigenheiten («Muis» etc.) nach wie vor, und zwar in ihrer üblichen Alltagssprache. Allerdings gibt es auch «flexible» Sprecherinnen und Sprecher, die ihren dialektalen Ausdruck jeweils auf unterschiedliche Situationen abstimmen. Im Austausch mit Andersdialektalen, die einen «Mehrheitsdialekt» sprechen, verzichten sie auf Wörter oder Lautungen, die mutmasslich eine Nachfrage auslösen könnten: Ein «Woher-kommst-du-denn-mit-deinem-Dialekt» könnte nämlich einen Gesprächsverlauf auf ein unerwünschtes Nebengeleise lenken. In Situationen jedoch, in denen sie kenntlich machen möchten, zu den Einheimischen zu gehören, kommen die «typischen» Merkmale zum Zuge.

Da der Dialekt nicht nur die Herkunft eines Sprechers, einer Sprecherin verrät, sondern darüber hinaus die Stereotypen aufruft, die mit Örtlichkeiten verbunden sind (lustige Appenzeller, arrogante Zürcher, «chnebelgrindige» Innerschweizer...), mag einige dazu veranlassen, verräterische Dialektformen zu verstecken. Wenn jedoch ein Skirennfahrer wie Marco Odermatt solche Formen bei seinen öffentlichen Auftritten nachgerade ins Scheinwerferlicht stellt («Tüpflischeysser», denkbar wäre auch «Tipflischeysser») und sich damit selbstbewusst als Buochser zu erkennen gibt, dann fügt er dem Image der Innerschweiz und ihrer Dialekte eine Komponente der Weltläufigkeit hinzu. Es sind also nicht nur sportliche Lorbeeren, die sich «Odi» holt, sondern ihm kommt das Verdienst zu, einem «besonderen» Dialekt mediale Präsenz zu verschaffen und damit letztlich für die Attraktivität – und den Erhalt? – dieses Kulturgutes zu sorgen.

Gesamtausgabe «zentralinfo» 01/2024 (PDF)

Artikel von: Prof. Dr. Helen Christen, emeritierte Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü.

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